Sonntag, 21. Juni 2020

Dritter Zwischenbericht


Noch ein paar Schritte und ich hatte es endlich geschafft. Nach einer knappen Stunde, in der ich in der Mittagshitze bergauf gelaufen bin, kam ich endlich an der Schule unserer kleinen Kids an. Noch bevor ich einmal kurz aufatmen konnte, kamen die beiden Geschwister auf mich zu gerannt und erzählten wild durcheinander was heute alles passiert ist. Nachdem ich ihre Taschen und Jacken gefunden und aufgesammelt hatte, waren die beiden aber schon längst wieder auf dem Klettergerüst. „Nur noch kurz“, bekam ich immer wieder zu hören. Mit allen möglichen Mitteln versuchte ich sie davon zu überzeugen mit mir zu kommen. Manchmal klappte es gut, manchmal eher weniger. Nach allen möglichen Versuchen und gutem Zureden schaffte ich es dann endlich mal wieder, dass sie herunterkamen, ich setzte ihnen die kleinen Rucksäcke auf und sie verabschiedeten sich von ihren Freunden und ihrer Lehrerin. Kurz vor dem Ausgang fiel dem Mädchen ein, dass sie jetzt aber noch ganz dringend auf die Toilette muss. Also: Kommando zurück! Während das Mädchen aufs Klo ging, fing der Junge plötzlich wieder an, mit einem anderen Jungen Fangen zu spielen. Eine halbe Ewigkeit später gingen wir dann zusammen aus der Schule. Ein paar Meter weiter mussten wir aber schon wieder stehen bleiben. Dort befindet sich die Schule von drei weiteren Kindern der Fundación, die abgeholt werden müssen. Allerdings erst ein bisschen später, also hieß es warten. Während ich versuchte die Geschwister ohne Streit einigermaßen in meiner Nähe zu behalten, kamen mal wieder ein paar Eltern auf mich zu und fragten, warum ich so viele Kinder von der Schule abhole. Nachdem ich die Geschichte dann ein paar Mal erzählte, rannten schon die ersten Kinder aus den Klassenzimmern in den Pausenhof, den man durch den Zaun, vor dem sich mittlerweile eine Horde Eltern versammelten, ganz gut sah. Ich versuchte schon einmal meine Kids zu entdecken, was meist aber eher erfolglos ausging. Die ersten Kinder kamen aus der Schule und entfernten sich von dieser kurz darauf mit ihren Eltern. Andere stürmten auf die Süßigkeiten und Eisverkäufer zu, die sich mittlerweile vor der Schule versammelt hatten. Ein paar Minuten später durfen auch die Eltern die Schule betreten. Ich ging also mit zwei Vierjährigen hinein, suchte meine Kids und ging dann auf das Klassenzimmer eines der drei Kinder zu, welcher heute seinen Aseo del aula hatte. Ich trug also den größeren Kindern auf, auf die Kleinen aufzupassen und fing an, den Boden des Klassenzimmers zu kehren. Immer wieder schaute ich nach draußen, doch alle fünf Kids spielten ruhig zusammen im Pausenhof. Nachdem ich auch noch die Tische und Stühle geputzt hatte, versuchte ich auch dieses Mal wieder die Kinder zum Gehen zu bewegen. Die größeren sind hierbei deutlich einfacher zu überzeugen und wenn ich Glück hatte, zogen diese dann die Kleinen auch noch mit. Kurz vor dem Ausgang rannte jetzt plötzlich der kleine Junge ins Bad. Den drei Größeren merkte man die leichte Genervtheit an, aber sie setzten sich in den Pausenhof und packten ihre Süßigkeiten aus, bei denen ich mich bis heute frage wo sie diese oder das Geld dafür herbekamen. Nachdem der kleine Junge von der Toilette wiederkam, rannte er natürlich auf die Größeren zu und wollte auch etwas abhaben. Dann kam auch noch eine Lehrerin aus dem Klassenzimmer von nebenan heraus, mit der ich mich besonders gut verstand, und fing die tägliche Konversation an. Wenn sie mich nicht schon beim Reinlaufen abfing, dann spätestens kurz vor dem Gehen. Nach einer netten Unterhaltung ging ich wieder einmal auf meine Kids zu und irgendwie schaffte ich es auch dieses Mal wieder nach ein paar Versuchen, sie zum Gehen zu bewegen. Mit den zwei Kleinen an der Hand, lief ich den Größeren hinterher. Diese beschwerten sich immer wieder, dass die Kleinen so langsam laufen. Am Ende der Straße fragten sie mich dann, ob sie kurz zur tienda laufen könnten. Ich nickte und blieb mit den Geschwistern stehen. Nach ein paar Minuten kamen sie mit noch mehr Süßigkeiten wieder, um die sich dann wieder einmal alle kurz stritten. In dieser Zeit fuhr uns der Bus vor der Nase weg, also überquerten wir alle mit großer Vorsicht die Straße und warteten auf den nächsten, der in ungefähr 10 Minuten kommen sollte. Dadurch das an jeder Ecke ein kleiner Laden war, schauten auch an dieser Ecke alle wieder mit großen Augen hinein und suchten alle Taschen nach noch ein bisschen Kleingeld ab. Wenn dann mal wieder nichts gefunden wurde, probierten sie ihr Glück mal wieder bei mir. Doch da kam auch schon der Bus und ich war damit beschäftigt, alles was die Kleinen aus ihren Rucksäcken gekippt hatten, wieder hinein zu befördern während ich gleichzeitig dafür sorgte, dass sich alle für das Einsteigen bereit machten. Die Größeren standen allerdings schon längst an der Straße und strecken ihre Arme aus, sodass der Bus anhielt. Da dieser aber wie fast immer sehr voll war, quetschten wir uns in den Gang und auf die Treppe. Mit zwei kleinen Rucksäcken und fast immer einem der Geschwister auf dem Arm, dass sich weigerte vom Gehweg aufzustehen, suchte ich irgendwie das nötige Kleingeld heraus und reichte es dem Busfahrer. Dann konnte es endlich los gehen. Die nächsten paar Minuten war ich dann damit beschäftigt alle Kinder, die sich wild im Bus verteilten, im Auge zu behalten, mich gut festzuhalten und auch noch auf den Weg zu schauen, damit wir rechtzeitig ausstiegen. Nachdem ich kurze Zeit später dem Busfahrer signalisierte, dass wir jetzt aussteigen müssen, gab er noch einmal Vollgas, hielt aber kurz nach der nächsten Kreuzung an. Die Großen sprangen aus dem Bus, während ich mit einem Kind auf dem Arm aus dem Bus stieg und kurz danach dem anderen runter half. Währenddessen gab der Bus schon wieder Gas und war schon längst weg, als ich das Kind auf den Gehweg setzte. Spätestens jetzt streikte eines der Geschwister komplett und hatte absolut keine Lust mehr zu laufen. Wie viel Zeit ich an dieser Stelle schon mit Überredungskunst verbrachte, möchte ich gar nicht wissen, aber ich sag es mal so: Alle angrenzenden Nachbarn und die meisten Passanten kennen mich bereits sehr gut. Die Größeren waren mittlerweile schon sehr genervt und wollten einfach nur nach Hause. Was mir aber ganz recht war, denn so halfen sie mir, die Kleinen zum Gehen zu bewegen. Nicht selten flossen hier Tränen oder es gab Wutausbrüche. Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte ich dann, wie auch immer, alle Kinder zum Laufen und kurze Zeit später war die Welt auch meistens schon wieder in Ordnung. Weit war es jetzt wirklich nicht mehr. Kurze Zeit später waren wir fast am Tor des ehemaligen Parks und Schwimmbades angekommen, in dem das Kinderheim stand. Im Kopf fing ich an von drei herunter zu zählten: 3, 2, 1, 0 … und schon fingen die Größeren an zu rennen. „Ich klingle“… „nein ich“… „aber du hast schon letztes Mal“, hörte ich die Kids vor mir schreien. Das erste Lächeln des Tages huschte über meine Lippen, aber schon kurz danach lief ich schnell hinterher, um weitere Streitigkeiten zu vermeiden. Nachdem dann geklingelt wurde, versteckten sich alle hinter der Mauer. Da kam er auch schon: der nette Mann von nebenan mit dem ich mich wieder einmal kurz unterhielt, während er das Tor aufschloss. Ich bedankte mich schließlich und ging mit den kleinen Kindern hindurch. Auch dem netten Herrn war das Versteck spielen bereits bekannt. Er schaute mich nur kurz an und nach dem ich nickte, spielte er mit. Er tat so, als würde keiner mehr kommen und machte langsam das Tor wieder zu. Da kamen die drei aus ihrem Versteck und huschten noch schnell durch das halb offene Tor. Jetzt war es nun wirklich fast geschafft. Am Anfang des Parks standen ganz viele Stauden voll mit Äpfeln, das nächste große Hindernis. Wie oft ich den Kids schon gesagt habe, dass das nicht unsere sind und sie die nicht einfach klauen dürfen… ehrlich gesagt habe ich irgendwann das Zählen aufgehört. Wenn dann natürlich einer anfängt, stehen kurze Zeit später alle zwischen den Stauden und fingen gierig an Äpfel zu pflücken. Inzwischen bin ich schon bei: „aber bitte jeder nur einen Apfel“, aber auch das funktionierte eher selten. Mit „der Mann kommt wieder“, bekomme ich sie aber meist ganz gut zum Weiterlaufen. Doch die nächste Herausforderung befand sich schon ein paar Schritte weiter zu unserer Rechten. Pferde. So lange sie weiter weg sind, finden die Geschwister sie noch ganz toll und sind völlig fasziniert von ihnen, aber sobald wir den Pferden näherkommen, bekam das Mädchen Angst und weigerte sich wieder einmal weiter zu laufen. Jedes Mal erklärte ich ihr dann, dass die Pferde an den Bäumen festgebunden sind. Manchmal klammerte sie sich dann fest an meine Hand und versteckte sich hinter mir, manchmal muss ich sie aber auch tragen. Doch danach ist es endlich geschafft, das Kinderheim ist in Sicht. Die Großen rannten schon Voraus, aber nicht etwa zum Kinderheim, sondern zum Mora-Strauch, der sich kurz davor an einem Fluss befindet. Ich versuchte die Kleinen dann so abzulenken, dass sie nicht auch noch durch die dornigen Sträucher in die Nähe des Flusses wollten und dann endlich waren wir da. Doch Ausruhen ist nicht, dort erwarteten mich bereits die restlichen Kinder und tausend andere Aufgaben im Haushalt und mit den Kindern. Die nächste große Herausforderung ist es dann, alle Kinder zum Umziehen und Mittagessen zu bewegen. Danach Abwaschen, Spülen, Wäsche machen, den Kindern bei ihren Hausaufgaben helfen und sich eine Aktivität für den Rest der Kinder ausdenken. Nach ein paar Einkäufen standen schon wieder das tägliche Duschen und dann das Abendessen an. Plötzlich ist es auch schon 20 Uhr und wenn ich dann auch noch ganz viel Glück habe und nichts mehr zu tun ist, bin ich fertig. Mit der Arbeit und mit dem Tag. In der Dunkelheit laufe ich nach Hause und falle dort nur noch ins Bett, gespannt was die Kids sich am nächsten Tag wieder alles einfallen ließen!
Woher ich diese ganze Energie nehme? Von den Kindern selbst. Die, die mich nicht selten zur Verzweiflung und an den Rand meiner Fähigkeiten bringen, geben mir gleichzeitig auch die Kraft dazu alles irgendwie zu meistern. Es sind die ganz kleinen Momente, in denen sie mir ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Momente, die mich zu Tränen rühren und die mich nie vergessen lassen, warum ich das alles tagtäglich auf mich nehme.

Und jetzt sitze ich hier. Bin leider wieder in Deutschland. Viel zu früh musste ich weg von all dem Chaos aber auch von all den tollen Menschen und wunderbaren Orten. So viel geht mir gerade durch den Kopf, doch eines werde ich ganz sicher nie vergessen. Die Liebe, die ich dort ausnahmslos von allen bekommen habe und jeden Tag aufs Neue versucht habe zurückzugeben. An die, die es am Meisten brauchen: die Kinder!



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